Nico (*2000)

Es ist nie alles gut. Aber sagst du das?

Bevor Nico sein Praktikum bei der Lebenshilfe in Lüneburg beginnen konnte, haben wir den Weg zur Lebenshilfe im Vrestorfer Weg mit ihm trainiert. Ein Jahr lang. Immer wieder: von zu Hause zum Bahnhof, in den Zug, vom Bahnhof in den Bus zur Lebenshilfe. Und zurück. Wir wohnen schließlich in Meckelfeld.

Meine Schwangerschaft war wunderbar. Problemlos, ohne Komplikationen. Auch die Geburt. Am zweiten Tag nach der Geburt hatte Nico akuten Sauerstoffmangel, er war ganz grau und bekam keine Luft. Nico kam per Notarzt nach Altona, von da ins UKE in die Kinderkardiologie. Dort stellten sie fest: Nico hat das Hypoplastische Linksherzsyndrom. Das bedeutet, er hat nur die rechte Herzkammer. Auf dem Ultraschall kann man das nicht sehen. Von 10.000 Babys mit Herzfehlern kommt das ein Mal vor. Früher sind diese Kinder kurz nach der Geburt gestorben. Heute gibt es die Möglichkeit einer dreiteiligen OP, alle am offenen Herzen und sehr risikoreich, die einzige Überlebenschance. Als Eltern konnten wir entscheiden, ob wir die OP`s wollen oder nicht. Weil der Ausgang so unklar ist und wie es dem Kind danach geht. Es wäre ethisch vertretbar gewesen, uns dagegen zu entscheiden.

Wir haben einen Familienrat einberufen mit unseren Eltern und Nicos Patentante. Wir haben versucht, eine Entscheidung zu treffen, die tragbar ist. Die Ärzte haben uns wirklich toll beraten, sehr ausgewogen, sie haben sich sehr viel Zeit genommen. Mein Mann hat sofort gesagt: Wir machen das. Ich war zwischendurch nicht sicher, ob ich das schaffe. Wir hatten ja schon Marcel, er war sechs, und was wäre gewesen, wenn Nico ein Schwerstpflegefall werden würde. Als ich dann an seinem Bett stand, war es klar. Wir müssen es versuchen. Ein Kinderherzchirurg aus Paris hat Nico operiert. Er war eine Woche alt. Die OP dauerte acht Stunden. Mit vier Monaten die zweite OP, mit knapp drei Jahren die dritte. Der Kreislauf wurde sozusagen umgebaut: Die rechte Herzkammer pumpt das sauerstoffreiche Blut in die Organe, normalerweise tut das die linke. Die rechte hat aber nur 20 Prozent Leistung. Seit er elf ist, hat Nico einen Herzschrittmacher, weil er Herzrhythmusstörungen bekommen hat. Es gibt immer wieder Komplikationen, Aufs und Abs. Die ersten Organschäden. Bei der ersten OP wurde er 45 Minuten reanimiert, er ist daher sehr entwicklungsverzögert.

Unsere Eltern haben uns von Anfang an unterstützt. Das war großartig. Ich konnte sogar wieder arbeiten, als Nico im Kindergarten war. Und eine Freundin sagte eines Tages zu mir: So, jetzt haben wir genug geweint. Was kann ich tun? Das war eine große Hilfe. Andere sahen ihn nach den OPs im Buggy und sagten: Dann ist doch jetzt alles gut.

Nein, es ist nie alles gut. Es ist ein lebenslanger Weg. Aber sagst du das?

Nico mag keine Zahlen und kann nicht so gut rechnen, aber Schreiben hat er sich beinahe selbst beigebracht. Sobald er einen Computer hatte, schrieb er, Tagebücher und Rezepte. Dann ließ er die Autokorrektur drüberlaufen. Heute schreibt er fast fehlerfrei. Nach der Schule wollte er etwas mit Computern machen, aber was? Wo passt er hin, einigermaßen fit, aber eben doch mit geistiger Behinderung? Ein Lehrer brachte uns auf die Idee, dass die Lebenshilfe Lüneburg-Harburg Menschen für den Empfang ausbildet. Ich sprach dort vor und fragte nach einem Praktikum für Nico. Weil wir in Meckelfeld wohnen, war die Bedingung, dass Nico als Selbstfahrer kommt. Zwei Jahre und drei Monate pendelte Nico. Das war nicht einfach. Es war für alle sehr, sehr stressig, auch für uns. Wir haben uns dann nach einem Platz in einer WG umgesehen. Nach drei Jahren Wartezeit bekam Nico ihn: Am Sande. Er selbst wollte nicht raus aus der Kuschelzone zu Hause. Er hat Angst vor Veränderungen. Aber wir sind Schubs-Eltern. Unser größtes Ziel ist, ihn selbstständig zu kriegen. Jetzt ist er hier super glücklich. Er fährt überwiegend mit dem Fahrrad zur Arbeit und merkt, dass Lüneburg eine coole Stadt ist. Er wird erwachsen. Nico hat ein sehr offenes Wesen, ist ein sehr gängiger Mensch, sehr höflich, sehr bemüht, alles richtig zu machen. Nico ist sehr beliebt. Seine Leidenschaft ist das Reisen, er möchte die ganze Welt sehen. Wir sind glücklich, dass er leben darf.

Ich war schüchtern, bevor ich Nico bekam. Durch ihn habe ich gelernt zu kämpfen. Ich habe keine Angst mehr, irgendwo Widerspruch einzulegen. Ich löchre die Ärzte mit Fragen, denke immer im Voraus. Natürlich wäre es mir lieber, wir hätten das nicht. Aber ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, ob ich etwas falsch gemacht habe. Diese Energie lasse ich gar nicht erst zu. Mit dem Schicksal zu hadern, bringt uns nicht weiter.

Bei uns wiederholt sich die Familienkonstellation: Ich selbst bin mit einer behinderten Schwester aufgewachsen. Ich weiß also auch, wie es für Marcel ist, Nicos älteren Bruder. Er hat uns nie Probleme gemacht, genau wie ich damals. Wir haben es als Familiensituation so angenommen. Wir als Eltern haben eine Generalvollmacht für Nico, sein Bruder ist der Ersatzbevollmächtigte. Wir haben ein Testament, es ist alles geregelt.

Wie es weitergeht mit Nico, wissen wir nicht. Er ist einer der ältesten Erwachsenen mit dieser OP-Methode, es gibt noch keine Vergleichswerte. Das macht mir manchmal zu schaffen. Gerade gibt es wieder Komplikationen. Die Elektroden von seinem Herzschrittmacher machen Probleme. Sie sollten eigentlich ewig halten. Jetzt gehen sie kaputt. Die Ärzte rechnen mit Komplikationen bei der nächsten OP – die fünfte am offenen Herzen. Nico weiß das und hat große Angst, nicht mehr aufzuwachen. Je älter er wird, desto reflektierter wird er, sorgt sich um seine Gesundheit. Er bekommt jetzt psychologische Begleitung. Auch wir haben richtig Angst. Das ist für uns alle schwer auszuhalten. Aber Nico ist ein Kämpfer. Wir sind unsagbar stolz auf ihn. Er wird es schaffen.

Andere Eltern haben uns Mut gemacht

Richtig zu verarbeiten, dass man ein schwer krankes Kind bekommen hat, das braucht viel Zeit. So ganz gelingt es nie. Aber uns hat schon früh geholfen, Kontakt zu anderen betroffenen Familien aufzunehmen. Man fühlt sich dann nicht mehr so alleine, und man sieht bei anderen Familien, die schon mehr Erfahrung haben, dass das Leben weitergeht und dass die Kinder trotz all dem, was sie durchmachen müssen, lachen können und gerne leben. Bei uns war es der Eltern-Verein Herz-Kinder-Hilfe Hamburg e.V., der in der Klinik präsent war in Nicos ersten Lebensmonaten, als alles noch neu und unglaublich schwierig für uns war. Von den Eltern älterer Herz-Kinder haben wir viel gelernt. Sie haben uns Mut gemacht. Ich habe mich dort damals stark engagiert, auch auf Bundesebene, das half gegen das Gefühl der Ohnmacht. Mit einigen Eltern haben wir bis heute Kontakt. Und Nico hat bis heute seinen Herzteddy, den er im Krankenhaus auf der Herzstation geschenkt bekommen hat. Der bedeutet ihm sehr viel. Es ist ein Teddy zum Mut Machen und Trösten.

Unser größter Antrieb, immer weiterzumachen und nicht zu resignieren, ist aber Nico selbst. Er ist so ein fröhlicher, liebenswerter Mensch, der sich über so viele Kleinigkeiten im Alltag und auf Reisen freuen kann! Er ist uns oft ein Vorbild. Wir haben unsere damalige Entscheidung, ihm die Chance zu leben zu geben, nie bereut. Es ist halt unser Päckchen, das wir zu tragen haben. Und letztendlich? Letztendlich wachsen wir durch diese Aufgabe, Nico zu begleiten. Und zwar jeder einzelne in unserer Familie. 

 

Ulrike Peter (*1967)

Nico (*2000) besuchte die Förderschule für geistige Entwicklung in Buchholz/Nordheide, den Berufsbildungsbereich der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg gGmbH und arbeitet am Empfang der Lebenshilfe am Vrestorfer Weg. Er lebt in einer Wohngruppe der Lebenshilfe Am Sande und hilft ehrenamtlich in der DÜNE.